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Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind am Flughafen, Stress liegt in der Luft, viele Menschen sind hektisch unterwegs - Sie inklusive. Leider, wie so oft, schon wieder knapp dran… Da entdecken Sie plötzlich, zwischen all den Menschen, einen buddhistischen Mönch, der ganz langsam und achtsam, Schritt für Schritt durch die Hallen geht. Es scheint, er komme aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt, völlig losgelöst von all der Hektik geht er seinen Weg. Es könnte sich dabei um Thích Nhất Hạnh handeln, einem vietnamesischen buddhistischen Mönch, Schriftsteller und Lyriker, heute 93 Jahre alt. Denn genau von dieser Situation erzählt er in einem seiner vielen Bücher. Er fährt bei seinen Reisen gerne, sehr frühzeitig an den Flughafen um dann, Schritt für Schritt, seinen Weg zu gehen.
Und wie ist es bei uns? Auch wir sind oft in einer anderen Zeit unterwegs. Meistens beschäftigen sich unsere Gedanken allerdings mit Situationen der Vergangenheit oder mit Gedanken an die Zukunft. Oft weit davon entfernt, vom hier und jetzt. Aber ist nicht der jetzige Moment der Wichtigste? Ist dies nicht die Zeit, in der wir unser Leben erfahren, gestalten und tatsächlich leben. Was war, ist Teil von uns, eine Erfahrung, aber nicht mehr zu ändern. Was kommt können wir auch nur eingeschränkt beeinflussen. Wie oft machen wir uns Sorgen über die Dinge, die so nie eintreten werden. Achtsamkeit hilft uns Gedankenmuster und den Autopiloten zu verlassen, um dadurch klarer und bewusster zu werden.
In den vergangenen Jahren ist gerade in der Therapie das Achtsamkeitstraining mehr und mehr bekannt geworden. Die positiven Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen sind inzwischen mit vielen Studien belegt. Jon Kabat-Zinn, hat vor vielen Jahren in den USA ein Achtsamkeitsprogramm entwickelt, um Menschen zu helfen, besser mit Stress, Angst und Krankheiten umgehen zu können. Er nannte es MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) - in Deutschland spricht man auch vom Kurs „Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit“. Die praktischen Übungen dieses 8-Wochen-Kurses bestehen aus angeleiteten Körperreisen (Bodyscan), Sitzmeditationen und Körperübungen aus dem Yoga.
Es handelt sich um keinen Entspannungskurs, wie viele vermuten. Vielmehr liegt der Fokus auf das bewusste Wahrnehmen und Beobachten des Moments über unseren Körper und in der Stille. Entspannung kann allerdings, als Nebeneffekt, die Folge sein.
Wie achtsam sind Sie in Ihrem Leben unterwegs? Wie oft gönnen Sie sich mal eine Atempause, um wieder zur Ruhe zu kommen? Probieren Sie es
doch gleich mal aus: „Konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem, nehmen Sie wahr wie der Atem durch die Nasenlöcher einströmt und sich gleichzeitig Ihre Bauchdecke füllt. Nehmen Sie einen Moment die
Fülle wahr und atmen Sie dann wieder vollständig aus. Beobachten Sie nun einen Moment die Leere. Dann atmen Sie wieder ein… Um das Kopfkino ebenfalls etwas auf Pause zu schalten, kann es helfen,
wenn Sie beim Einatmen „Ein“ und beim Ausatmen „Aus“ denken. Viele Menschen kommen auch mit dem „Zählen“ gut zu recht. Immer wieder von 1- 10 mit dem Atemrhythmus verbunden. Vielleicht stellen
Sie sich vorab noch einen Wecker und üben erst mal eine Minuten und steigern sich dann von Tag zu
Tag. Nach der Atemfolge ist es gut, sich noch ein paar Moment Zeit zu nehmen, um nachzuspüren.
Wie geht es jetzt Ihrem Körper? Können Sie einen Unterschied zu vorher feststellen? Welche Gedanken sind jetzt da? Welche Gefühle? Versuchen Sie, ganz nach den Elementen der Achtsamkeit, sich zu
konzentrieren, zu beobachten und nicht zu bewerten, sondern nur zu beschreiben. Wenn Ihnen das Üben schwe fällt, ganz normal! Es braucht wie in allen Dingen, Zeit der Übung, Vertrauen, Akzeptanz
und das Loslassen von Erwartungen.
Übungsfelder für die Achtsamkeitspraxis haben wir in unserem Alltag jeden Moment. Beim nächsten Mittagessen mal ganz bewusst und langsam essen. Essen Sie, als würden Sie diese Mahlzeit das erste Mal in Ihrem Leben essen. Schmecken Sie, beschreiben Sie, genießen Sie. (Loben Sie vielleicht anschließen auch noch den Koch oder die Köchin, auch das passt gut ins Achtsamkeitsprogramm). Machen Sie Ihren nächsten Spaziergang zum Übungsfeld: Gehen Sie eine Strecke ganz langsam, Schritt für Schritt, spüren Sie das Anheben der Fußsohle vom Boden und das wieder Aufsetzen, verbinden Sie Ihr Gehen mit Ihrem Atem. Halten Sie auf Ihrem Weg immer mal wieder einen Moment an, schließen die Augen und richten Ihren Fokus auf die Geräusche der Umgebung. Nur Hören, ohne zu Bewerten. Was hören Sie? Vogelzwitschern? Den Wind in den Bäumen? Die sanften Wellen im See? Je länger Sie in der Stille bleiben umso mehr wird die Stille lebendig. Bleiben Sie bei einem Baum stehen und schulen Sie Ihren Tastsinn. Spüren Sie die Rinde, wie fühlt es sich an? Bleiben Sie auch hier für ein paar Momente der Ruhe. Vielleicht schenkt Ihnen der Baum sogar noch einen persönlichen Gedankenimpuls. Weitere Übungsfelder finden wir Zuhause beim Kochen, im Gespräch, beim Zähneputzen, beim Einkaufen, beim Autofahren, letztendlich bei allem was wir tun. Was auch sehr hilfreich ist, gehen Sie immer mal wieder in den Offline-Modus, gönnen Sie Ihrem Handy Pause und nehmen Sie sich Zeit für sich. Spüren ein paar Momente bewusst Ihren Körper, beobachten Ihren Geist und lauschen was Ihr Herz sagt.
Das Schlusswort übergebe ich nochmal Jon Kabat-Zinn: „Man kann Wellen nicht aufhalten, aber man kann lernen zu surfen.“
Artikel in SOB-Family, Ausgabe Frühjahr/Sommer 2020